Mein schwarzer Teppich
„Ich will nicht mehr leben“, denke ich. Im selben Moment noch stockt mir der Atem, ich reiße entsetzt den Mund auf, meine Augen starren auf die Decke über mir. Selbst die Tränen trauen sich vor Schreck nicht mehr weiter über meine Wangen zu rollen. Hier und jetzt ist alles eingefroren beim Anblick der tiefen Düsternis dieses einen Gedankens. Eine Grenze ist überschritten. Ein Territorium, das ich nie betreten hätte sollen in verstörende Sichtweite gerückt.
Ich weiß heute gar nicht mehr genau, wie lange das her ist. Wie ich da so lag auf meinem schwarzen Teppich im Vorzimmer, auf dem ich mich kurz zuvor weinend niedergelassen hatte, nur um mich dann auf den Rücken zu drehen und ins Leere starrend das Äußerste zu denken. Ich weiß noch, wie der Teppich sich angefühlt hat. Rauh und sicher bot er meinem Rücken Geborgenheit und Halt. Er war ganz einfach da und hat mir nichts vorgemacht, hat keine Fragen gestellt.
Ich weiß auch nicht mehr, wie lange ich dort liegen geblieben bin, auf meinem dunkelschwarzen Teppich.
Schon gelesen? Wie ich mir selbst ein Leben lang die falsche Geschichte erzählt habe
Seitdem sind meine Haare fast 30 cm gewachsen. Ich habe ich über mich gemerkt, dass ich gerne koche. Ich habe einen Blog gestartet, habe wieder angefangen zu zeichnen und meine Kreativität mehr zu leben. Ich habe einen beruflichen Aufstieg geschafft und habe die schwierigste Zeit in meinem bisherigen Berufsleben durchlebt. Ich habe mich neu orientiert und bin gelandet, wo ich nie sein wollte, nur um zu sehen, dass es mir hier gut gefällt. Und dass ich bleiben würde, immer noch ein kleines Bisschen. Ich habe Menschen, die ich so gerne festhalten wollte, losgelassen und neue Menschen wurden Teil meines Lebens. Ich bin Patin von den beiden wundervollsten Kindern geworden. Vorher wusste ich nicht, dass mein Name auch mal „Goti“ sein würde. Ich habe viel Scheiße gebaut und Dinge getan, die ich heute als supercringe empfinde. Meinem Endgegner habe ich in die Augen geschaut und eine Ahnung davon bekommen, wie unglaublich sich überwinden anfühlen könnte. Und was Zeit zu tun vermag. Im Online-Dating habe ich mich kurz und erfolglos probiert, bin durch einige Lockdowns gegangen – beides nur um zu erkennen, dass ich gerne reale Menschen mag. Und beim Rausgehen dann wieder zu verstehen, dass ich auch gerne für mich bin. Dass ich viel resilienter bin als ich weiß, habe ich gemerkt. Eine Ausbildung habe ich abgeschlossen und eine abgebrochen, beides hat mir eine neue Richtung gewiesen. Ich habe mich seither getraut zu tun, was ich immer dachte, dass ich nicht könnte… und es zu können. Wieder eine neue Ausbildung angefangen, diesmal nur viel mutiger. Muster hinterfragt und gebrochen. Wenn alles zuviel wurde habe ich mit Angst gekämpft und jedes Mal wieder Ruhe gefunden irgendwann. Ich bin zweimal umgezogen und habe einen riesengroßen Kreis geschlossen. Habe mich verliebt und entliebt. Habe die Dreistigkeit entwickelt, als Frau gut darin zu sein, Menschen zu führen und tue es seither mit Absicht und aus Trotz. Bin kürzlich auf dem Weg zum Bus aufs Knie gefallen. Habe gelernt, mich aus Kontexten, die mir nicht guttun, friedvoll zu verabschieden wie ein Ballerina, die sich nochmals grazil verbeugt, nur um dann schnell und lautlos von der Bühne zu huschen. Zu tanzen habe ich vor Kurzem wieder angefangen. Und verstanden, dass „Ich will nicht mehr“ manchmal einfach bedeutet „Ich will SO nicht mehr“ und nicht weniger als eine Einladung zum Wiederaufstehen ist.
Jeden Tag bringe ich mindestens zwei Menschen zum Lachen. An den meisten Tagen sind es ungefähr fünf.
Der schwarze Teppich hat mich noch viele Jahre begleitet und an manchen Tagen ist er immer noch präsent in mir. Dann möchte ich nichts lieber, als mich auf ihn sinken zu lassen. Und wissen, dass ich von hier aus nicht mehr weiter fallen würde. Den festen Boden spüren. Die dunkle, raue Geborgenheit. Ein Teil von mir möchte ihn noch nicht ganz loslassen, den schwarzen Teppich. Und vielleicht ist das okay. Und vielleicht darf das so bleiben.
Letztes Jahr habe ich mich dennoch von ihm getrennt.
Der schwarze Teppich ist seit etwas über einem Jahr nicht mehr in meinem Leben. Abgenutzt von vielen Jahren wurde es Zeit. Es ist schwierig, sich von etwas zu trennen, von dem man weiß, dass es im schlimmsten Moment Halt geboten und einen Fall aufgehalten hat, der sonst ins Bodenlose gelaufen wäre – vielleicht. Es ist noch schwieriger, mich von der Person zu verabschieden, die sich damals irgendwann entschlossen die Tränen von den Wangen gewischt hat, sich hochgerappelt hat in eine Sitzposition und letztendlich wieder aufgestanden ist, nur um von diesem Zeitpunkt an entschlossen all die harte und erschreckende Arbeit zu tun, die eine Veränderung verlangt und fordert. Angekommen zu sein an dem Punkt, an dem ich sie nicht mehr brauche, weil ich mich von hier an alleine weitertragen kann.
Gerade schließe ich ein ganzes Lebensjahrzehnt und beginne ein neues. Beim Gedanken an den schwarzen Teppich bin ich immer noch verbunden mit der Person von damals, die so verzweifelt auf ihm lag. Die Verzweiflung von damals ist heute einem friedlichen Schmunzeln gewichen, wann immer ich an sie denke. Wie stolz sie wäre, wenn sie mich heute sehen könnte und wüsste, was ich seither alles gemacht habe, wie weit die Reise gegangen ist. Wie viel Leben da noch ist… weil ich von meinem schwarzen Teppich irgendwann wieder aufgestanden bin.