Die andere Seite der Angst
Wenn das Leben ein Zirkus wäre, dann wäre jede/r Einzelne von uns ein Trapezkünstler, in jedem Moment unseres Daseins vor die Wahl gestellt, auf dem sicheren Podest stehenzubleiben, oder das Trapez aus tausend kleinen Hinweisen und Gelegenheiten aufzufangen und damit rein in die große Ungewissheit zu schwingen.
Was uns jedoch von richtigen Trapezkünstlern unterscheidet, ist, dass wir nicht jahrelang nur für diesen Moment trainiert haben, sondern unser Leben zum ersten und einzigen Mal leben und deshalb oft mit weichen Knien vor dem Abgrund stehen und nicht genau wissen, wie es weitergeht.
Ein winziger Schritt nur macht den Unterschied zwischen Stehenbleiben und Fliegen. Jede/r, die oder der sich schon einmal in eine große Veränderung gestürzt hat, weiß, dass man sich meistens im Nachhinein fragt, warum man diesen Schritt nicht viel eher gewagt hat. Tatsächlich sind solche Schritte aber in Wahrheit die Spitze eines Eisberges, der Gipfel eines Prozesses, der lange vorher begonnen hat, in der Auseinandersetzung mit uns selbst, unserer Situation und dem Wunsch nach Veränderung. Dieser Wunsch schien zuerst vielleicht klein und ungreifbar weit weg, wurde dann jedoch immer größer und größer ist schließlich in greifbare Nähe gerückt ist. Zu groß ist jedoch meist die Angst, auch wirklich die Hand auszustrecken und danach zu greifen.
„Woher willst du wissen, ob du es auf die andere Seite schaffst?“, fragt die Angst. „Willst du wirklich alles loslassen, was dich trägt?“, möchte sie wissen. „Was ist mit all deinen alten Überzeugungen, kannst du sie wirklich so einfach über Bord werfen?“, quält sie dich. „Schau, hier hast du materielle und ideelle Sicherheit, einen Status, den du dir aufgebaut hast, hier ist es besser für dich!“, möchte sie dich fortwährend verführen.
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Auch wenn es uns oft ganz anders zu sein scheint, ist die Angst dabei nicht unser Gegner. Mit ihren bohrenden Fragen und ihrem dauernden Drängen, unsichere Situationen zu meiden und potentiellen Gefahren aus dem Weg zu gehen, erledigt sie einfach nur ihre Aufgabe. Und diese Aufgabe kann mitunter überlebenswichtig sein. Deine Angst ist einzig dazu da, dich zu warnen, wenn du dich auf unbekannte und eventuell unsichere Pfade begibst. Veränderung ist immer auch mit Unsicherheit verbunden und da meldet die Angst sich zu Wort, weil sie es muss. Sie tut dies aber niemals gegen dich, sondern immer für dich.
Es ist nicht falsch, sich am Ende für Sicherheit zu entschieden, solange es sich gut und richtig anfühlt. Wenn du dich aber unglücklich fühlst und dir Veränderungen in einem Lebensbereich wünschst, dann sollte es nicht nur die Angst sein, die dich zurückhält. Weiche Knie zu haben kann auch mitunter sehr beflügelnd sein, wenn man sich auf etwas Neues einlässt. Vor allem aber bedeutet es, dass das, was du tust, offenbar nicht egal, sondern wichtig ist. Mutig zu sein bedeutet nicht frei von Angst zu sein. Es bedeutet lediglich zu entscheiden, dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst. Es ist aber deine Aufgabe und nicht die deiner Angst, diese Entscheidung für dich zu treffen.
Was es auch ist, das du in deinem Leben ändern möchtest, selbst wenn du gar nicht weißt, in welche Richtung es konkret weitergehen soll: Lass das Trapez nicht an dir vorbeiziehen, sondern halt es fest und trau dich zu fliegen. Vielleicht wirst du es nie auf das Podest am anderen Ende schaffen, sondern landest stattdessen in einem Sicherheitsnetz, von dem du vorher nicht wusstest, dass es da ist. Und vielleicht kannst du dann auch Möglichkeiten entdecken, von denen du vorher nicht wusstest, dass sie da sind. Sicher ist sowieso nur eines: Alles, und zwar wirklich alles, was du willst, ist da drüben auf der anderen Seite – auf der anderen Seite deiner Angst.