Über mir ist nur der Himmel
Hier liege ich nun also auf dem Gehsteig, über mir ist nur der Himmel. Ich war noch nie so frei. Und ich weiß, ich muss das jetzt durchziehen.
30 Sekunden zuvor. Ich gehe den Gehsteig entlang, zielstrebig. Es sind nur noch wenige Meter, die mich von zu Hause, einer warmen Mahlzeit auf meinen leeren Magen und dem Gefühl von Geborgenheit trennen. Ein harter Tag liegt hinter mir, ich fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes ausgehungert und müde. Mein Kopf ist noch aktiv, die vielen Gespräche, all die Herausforderungen in meinem Job gehen mir noch durch den Kopf. Alles, was ich jetzt noch will, ist dieser Moment, wenn ich mich gemütlich auf meinem Sofa niederlasse und für den kleinsten aller Momente all diese Sorgen und Verpflichtungen von mir werfen kann. Ankommen. Wie damals als Schülerin, wenn man seine schwere Schultasche nach einem langen, harten Schultag von seinem Rücken gleiten ließ und endlich mal Kind sein konnte. Innerlich sehne ich solche Momente herbei, Momente, in denen ich die Verantwortung abgeben kann und nicht immer alles selber tragen muss. Wo sind sie hin, die Erwachsenen, die mir alles Schwere abnehmen? Ach ja, fällt mir ein. Ich bin ja jetzt die Erwachsene.
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Plötzlich spüre ich einen leichten Stups an meiner linken Ferse. Nicht hart genug, um wirklich wehzutun, aber deutlich spürbar. Aus meinen Gedanken gerissen drehe ich mich um, um zu checken, was das war. Hinter mir liegt ein Kind neben seinem winzigen Plastikfahrrad auf dem Gehsteig. Ich war angefahren worden und das war nun das Resultat. Zerschellt an meiner Ferse – ich muss wohl Iron Lady sein oder so – lag dieses fremde Kind direkt vor mir und ehe ich mich versah begann es lautstark zu heulen. Mein erster Reflex war, es aufzuheben, doch im nächsten Moment halte ich inne. Wer bin ich, ein fremdes Kind anzufassen? Wer weiß, ob das nicht alles noch viel schlimmer macht. Da sehe ich schon die Mutter von Weitem herbeilaufen und so bleibe ich also bei dem schreienden Kind stehen und als sie angekommen ist, entschuldige ich mich alsgleich übereifrig und reflexartig. „Tut mir leid, ich konnte das wirklich nicht sehen!“, höre ich mich selber sagen, während mein Hirn mich wie ein zynischer Kritiker von oben bis unten mit verschränkten Armen mustert und dann mit verzogener Miene urteilt: „Echt jetzt? Du entschuldigst dich dafür, dass das Kind dir hinten draufgefahren ist?“.
Eigentlich war die Entschuldigung mehr eine Art Höflichkeitsfloskel. Ein weiße Fahne, ein Zeichen des Friedens an die herannahende Mutter, um ihr das Gefühl zu geben, dass alles nicht so schlimm ist und ich nicht böse bin über die Tatsache, dass ihr Gschrapp mich von hinten tuschiert hat. In meiner naiven Vorstellung würde sie dann abwinken und sich ihrerseits entschuldigen, um sich daraufhin ihrem Kind zu widmen und es zu trösten. Wie glücklich wir alle drei am Ende waren, in meiner Vorstellung.
Die Realität sah jedoch so aus, dass die Mutter mich mit einem derart bösen Blick versah, dass Worte ihrerseits eh überflüssig wurden. Ich war hier also jetzt zum Arschloch mutiert, zur Persona non grata, zur Asozialen. Offensichtlich war es nun meine Schuld, dass dieses Kind da am Boden lag und heulte. Ich meine, echt jetzt? Wäre es nicht von Vornherein ihre Aufgabe gewesen, besser auf ihr Kind zu achten, bevor es irgendwelche Leute anfährt? Soll ich jetzt neben allem anderen auch noch die Verantwortung für mir völlig fremde, von hinten auflauernde Kinder übernehmen? Nein, denn in diesem Moment warf ich wie damals als Kind alles von mir und tat, was ich tun musste: Im Neymar-Style ließ ich mich langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Boden neben das Kind fallen, hielt mir die Ferse und begann laut zu schreien. „Auuuuu, meine Ferse, ahhhh!“.
Hier liege ich nun also auf dem Gehsteig, über mir ist nur der Himmel und die blöden Blicke der Passanten. Ich war schon lange nicht mehr so frei.
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