Von Zeit zu Zeit
Oft habe ich in den letzten Wochen in Gesprächen seufzend über die Qualität der Zeit geklagt und dafür viel Zustimmung erfahren. Aha. Offenbar bin ich mit dieser Empfindung nicht alleine. Dabei habe ich mich nie so sehr mit Zeit auseinandergesetzt. Sie war einfach. Eine unveränderliche Konstante. Und jetzt ist es irgendwie so, als würde die ganze Welt mit ihren Öffnungen und Schließungen und sich öffnenden Schließungen wie tausend arbeitslos gewordene Babyelefanten auf meiner Brust sitzen.
Vielleicht bin ich aber auch schlicht erwachsen geworden. Und mit mir all die Leute um mich herum. Ich spüre schon seit Längerem, dass Zeit für mich, für uns, keine ewige Konstante sein wird, die wir endlos zur Verfügung haben werden. Nur: Mit dieser Erkenntnis sollte ich die Zeit eigentlich noch bewusster, noch deutlicher und intensiver spüren. Ich sollte die Sterne beobachten und Enten füttern, sollte die Natur genießen und wundervolle Abendessen unter einer Pergola aus Rosen irgendwo im Süden zu mir nehmen. Ich sollte mehr so leben, wie diese Menschen in den Tourismuswerbungen. Ich sollte den Wechsel der Jahreszeiten mit einer zugleich beiläufigen und feierlichen Bemerkung festhalten wie meine Oma und meine Mutter das immer getan haben, als es mir einerlei erschien und ich ihnen getrost die Kontrolle über das zeitliche Geschehen überlassen konnte. Ich sollte dann meine Garderobe rituell der Jahreszeit anpassen. Ach, Jahreszeiten. Nicht einmal auf sie ist noch so recht Verlass.
Wie gerne würde ich den Verlauf der Zeit in derartigen Ritualen oder im Einklang mit der Natur spüren, mich darauf einlassen und mein Gefühl für die Vergänglichkeit und die Veränderung durch das bewusste Erleben füttern. Seit vielen Monaten ist die Zeit für mich nur noch ein Einheitsbrei, ein loses Uhrenrad, das sich wie verrückt um sich selbst dreht, aber nirgendwo mehr greift. Ein in sich eskalierendes und dennoch sinnloses Rad, das mit jeder Umdrehung auch allem anderen den Sinn zu nehmen scheint. Zahnlos. Durchgedreht. Und mit ihm dreht auch alles andere durch. Auch wir. Immer schön um uns selbst herum im allerkleinsten Kreis. Ohne Richtung. Alles geht mir irgendwie zu schnell und doch ist alles viel zu langsam. Mal möchte ich kotzen von der Schleuderbewegung und dann wieder fühle ich nur Stagnation, weil gar nichts weitergeht. Nirgendwohin. Alles ändert sich andauernd und doch kommt es am Ende immer auf das Gleiche heraus. Und ich schaue mir irritiert von außen dabei zu, wie ich krampfhaft versuche festzuhalten an einer Konstante, die gar nicht existiert.
So wie ich alle anderen Veränderungen in meinem Leben immer scheinbar leicht hingenommen habe, war es erstaunlich leicht für mich, die Lockdowns zu akzeptieren. Endlich musste ich nicht mehr die Energie aufbringen, Dinge abzugeben, sie wurden mir einfach aus der Hand genommen. Erst jetzt wird mir so langsam klar, dass meine frei gewordenen Hände seither damit beschäftigt waren, wieder ein bisschen von dem einzufangen und festzuhalten, was vorher war. Wie ein kleines Mädchen bin ich durch das Feld gehüpft um Schmetterlinge einzufangen, die mir doch nur dauernd entgleiten. Alles habe ich versucht. Ich habe verschiedene Kalender ausprobiert, Termine und wichtige Dinge in hundert Leuchtfarben markiert, Erinnerungen auf mein Handy gespeichert, getrackt, womit ich die Zeit an einem Tag verbringe, mich selbst beschworen, jede einzelne Minute eines jeden Tages maximal zu nützen, solange bis ich müde war, nur um dann von vorne zu lernen, meine Müdigkeit zu akzeptieren. Doch so wie Schmetterlinge zum Fliegen gemacht sind und nicht dazu, von mir eingefangen zu werden, macht sich die Zeit von allen Richtungen aus nur lustig über mich und meine Versuche, sie zu greifen und festzuhalten.
Und ich weiß gar nicht, warum mir das so verdammt wehtut, wo ich doch erleichtert sein sollte, dass ich nicht mehr kämpfen und jagen und festhalten muss. Dies ist der Moment, in dem ich tränenüberströmt und schluchzend im Feld sitzenbleibe und den Schmetterlingen zuschaue, wie sie mich total verarschen. Dies ist aber auch der Moment, in dem ich, sobald die Wut verflogen und die Tränen getrocknet sind, ihre wahre Schönheit erst erkenne. Und Klarheit in mir aufsteigen spüre, dass ich diesen Kampf umsonst gekämpft habe, weil ich einfach nur hier sitzen kann und ein Teil der unendlichen Erfahrung um mich herum sein. Alle Terminplaner, To-Do-Listen, Kalender verlieren mit der Erkenntnis ihren Wert und aus der Traurigkeit heraus muss ich schallend über mich selbst lachen und meine lächerlichen Versuche, den Verlauf der Zeit zu kontrollieren. Wie ich da als kleines Menschlein mit meinem noch viel kleineren Bullet Journal stehe und damit ernsthaft die Gezeiten beeindrucken will. Den Lauf des Universums und all seiner Kreaturen. Nur weil ich irgendwo hin möchte, bevor die Zeit dafür zu Ende ist. Und weil ich dann die Zeit festhalten möchte, damit sie nicht aus ist, bevor ich da bin.
Es ist die eine Sache, die sie dir in den tausenden Produktivitätsvideos nie erzählen: Du hast nicht einfach ein Leben, sondern du bist Leben, in tiefer Verbundenheit mit allem um dich herum. Du bist nicht einfach ein Kreisel, der sich sinnlos um sich selbst dreht, sondern du bist all die Kraft, all die Energie und all die Anziehung, die dieser Kreisel in seinem Umfeld erzeugt. Und vielleicht gibt es in dieser dauernden Umdrehung kein vorwärts, rückwärts, seitwärts, sondern einfach eine einzige Richtung: die Tiefe, immer noch tiefer hinein in die Verbundenheit zu dir, um mit dieser Kraft aus der Tiefe in der Welt zu wirken, die Dinge zu erkennen, wie sie immer gemeint waren, ohne sie zu beeinflussen, und Zeugin ihrer ureigenen Schönheit zu werden.
Und weil ich mitten aus der Traurigkeit heraus herzlich über mich selbst lachen kann, tut sich mir ein völlig neuer Blickwinkel auf. Jetzt gilt Aufmerksamkeit nicht mehr dem Zeitablauf, als würde das das Folgende immer das Hervorgegangene unwiederbringlich auslöschen, sondern all jenem, was zur gleichen Zeit ist oder sein kann. Die Gleichzeitigkeit wird zur neuen Herausforderung, der ich mich stelle: Zugleich Angst zu haben und dabei neue Schritte zu wagen, zugleich alles freizusetzen und den Moment einzufangen, zugleich zu sehnen und dabei loszulassen, zugleich Schmerz zu empfinden und dabei das Lachen nicht zu verlieren, zugleich das Nötige zu tun und immer weiter zu träumen, zugleich loszulassen und anzunehmen, zugleich erwachsen zu sein und dabei immer Kind zu bleiben, zugleich Pläne zu machen und dabei immer noch an Wunder zu glauben.